Darf eine Frau einen Soldat der Besatzungsmacht lieben? – Gedanken nach einer Lesung der norwegischen Verfasserin Trude Teige in Berlin-Pankow in April 2024
Darf eine Frau einen Soldat der Besatzungsmacht lieben? Diese Frage hat die norwegische Verfasserin Trude Teige mit ja beantwortet. Die Bücher Teiges sind in Deutschland beliebt. Ich habe diese Bücher nicht gelesen, so dieser Artikel ist kein Kommentar, und gar keine Rezension, über diese. Doch war ich zu einer Lesung wobei Teiges Bücher im Mittelpunkt stand. Thematisch, würde ich sagen, ging es um Liebe – ob und wie Liebe sich entfalten darf, wo Krieg herrscht. Im Laufe der Veranstaltung wurde mir klar, dass das Schicksal der Frauen der Frau Teige besonders am Herzen liege. Ihre Perspektive auf die Geschichte kann man eine feministische Perspektive nennen.
Fair enough, aber Krieg allein ist auch eine ernsthafte Frage – auch ohne Blick auf Geschlecht. Ich schreibe diesen Artikel als Beitrag der Aufarbeitung nach dem zweiten Weltkrieg. Kann eine feministische Perspektive in diesem Zusammenhang hilfreich sein? Meinerseits lehne ich die feministische Perspektive nicht ab, ich ergänze aber die Perspektive, so dass auch die feministische Perspektive in Perspektive gestellt wird.
Norwegen 1940-45
Norwegen wurde im zweiten Weltkrieg von deutschen Truppen besetzt. Ohne Vorwarnung landeten deutsche Soldaten am 9. April 1940 in die Hauptstadt Oslo. Die Regierung floh Richtung Norden. Es gab Gefechte, das ganze Land wurde aber im Laufe ein paar Monaten besetzt. In den folgenden fünf Jahren gab es von der Seite der Norweger eine Kombination von Widerstand gegen die Besatzung und praktischer Zusammenarbeit. Die Regierung befand sich in England. Im Laufe des Kriegs starben insgesamt 10.000 Norweger – in Gefechte, in Zusammenhang mit Widerstand gegen die Besatzungsmacht, oder in Holocaust. Am Ende des Kriegs übergaben sich die deutschen Streitkräfte ohne Kampf.
Es gab in Norwegen auch einen politischen Strom, der mit den deutschen sympathisierten, und sogar diese durch eine politische Partei unterstützten. Nach dem Krieg wurden die führenden Personen zu Tode geurteilt, andere bekamen Haftstrafen.
Aufarbeitung
In Europa ist immer noch der zweite Weltkrieg der mit Abstand wichtigste Krieg in Erinnerung. Er bleibt der feste Hintergrund, gegenüber dem aktuelle Überlegungen betreffend Krieg und Frieden aufgestellt werden.
Die Position der Frauen und der Männer, unter anderem die Frage der Gleichberechtigung, sind heute anders als wenn Krieg in Europa jüngst herrschte. Wenn man vom heutigen Blickwinkel sich über das Schicksal von Frauen, und eventuell auch von Männern, zu der Zeit des Krieges Gedanken macht, ist unsere Gegenwart der Ausgangspunkt. Wir denken und schreiben für uns selber und für die Zukunft. Vielleicht wollen wir aber auch gegenüber denjenigen, die vor uns lebten, Respekt gewähren bzw. Empathie zeigen.
Eine rechtliche Aufarbeitung fand also in Norwegen schon in den ersten Jahren nach Kriegsende statt. Das war auch in Deutschland so, nur war die letzterwähnte rechtliche Aufarbeitung etwas mehr – eher ein internationales Ereignis, von den Siegesmächten in Stand gebracht.
Dazu hat in den beiden Ländern eine mehr andauernde, allgemeine Aufarbeitung stattgefunden. Mit der Zeit traten die Juristen in den Hintergrund und die Historiker traten hervor. Auch haben sich Verfasser und Künstler zu Wort gemeldet. Löst sich denn langsam die Aufarbeitung in die allgemeine Diskussion über die Gesellschaft und ihre Zukunft auf? Ich würde nein, sagen, denn der zweite Weltkrieg blieb unser jüngster „Sturm“ – der bis heute jüngste umfassende Krieg, der die grundlegenden Verhältnisse zwischen den Ländern in Europa und in weiteren Teilen der Welt festlegte.
Reale Selbstmorde – fiktionale Rettung
Wenn ich zu Teiges Lesung einen Aprilabend in Berlin-Pankow ging, war ich nicht sehr optimistisch. Ich bin aus Norwegen ausgewandert, weil ich Norwegen „zu süß“ fand. Ich mag nicht postmodern-süßliche Romantiteln, etwa wie Teiges „Wenn Großmutter im Regen tanzte“.
Ich war durch einen Artikel in der „Berliner Zeitung“ auf die Veranstaltung aufmerksam gemacht worden. Der Artikel verwies sonst auf die Stadt Demmin. Ich hatte einmal von den vielen Selbst-Morden in Demmin in 1945 gehört. Tragisch – tragisch ist aber auch, dass in 1945 wurden „alle deutschen Frauen von 8 bis 80 vergewaltigt – das sowjetische Heer wurde zum Heer der Vergewaltiger“, so Unherd 2024.
Dieses Bild ist anders als das Bild, das durch den Film „Unsere Mütter unsere Väter“ (2013) geboten wurde, ein deutscher Beitrag zu der Aufarbeitung. Im Film will ein russischer Offizier eine deutsche Krankenschwester vergewaltigen, denn taucht aber eine ranghöhere russische Offizierin auf und rettet unsere deutsche Krankenschwester vor dem Debakel. Ein ähnliches Eingreifen wird im Berliner Roman „Unschuldige“ (Ian McEwan, 1990) beschrieben, in dem Fall wird zwar das Eingreifen von einem männlichen Offizier gemacht (nachträglich).
Abgeschnittene Wurzeln
Wenn ich ohne Optimismus zur Lesung ging, habe ich gedacht, ich könnte doch die Gelegenheit nutzen um der Verfasserin eine Frage zu stellen. Ich wollte womöglich ausfinden, welche Character habe ihr Interesse an der Geschichte, der deutschen Kriegsgeschichte einschließlich. Ich vermutete, die Verfasserin wolle nachweisen, dass die Deutschen, sagen wir in Demmin, damals „Menschen waren“. Die Menschen liebten ihre Familien und vielleicht auch die Stadt. Der Verfasserin zufolge solle dieser Blick auf die Vergangenheit reichen. Alles andere dürften wir vergessen. Somit dürften auch die Deutschen endlich neu anfangen.
Sowieso, für mehr zutreffend als diese (angenommenen) Ansichten, halte ich die Ansichten, die eine Landsmännin von Teige, und von mir, eine gewisse Frau Janne Haaland Matlary, ausgedrückt hat. Matlary, Professor und eine Zeit Staatsekretärin im Auswärtigen Amt, hat behauptet, dass das ganze Europa (unglücklicherweise) ihre historischen Wurzeln nach dem Krieg abgeschnitten habe. Man kann hier die Deutschen verstehen – dass aber andere westlichen Länder anscheinend auch ihre historischen Wurzeln abgeschnitten haben, halte ich meinerseits für „missverstandene Solidarität“. Können Menschen ohne Wurzeln überhaupt leben? Ein Mensch ohne Wurzeln wäre meiner Meinung nach leer. Im Westen haben wir individuelle Wurzeln, aber heute keine Kollektive.
Norwegische Frauen
Ich fand einen guten Platz im kleinen, aber vollen, Saal. Die Verfasserin erzählte erst von ihr jüngstem Buch, das in Asien spielt. Weiter hat Teige Demmin berührt – das Leiden der deutschen Frauen habe zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Hauptthema des Abends war aber die Norwegerinnen, die Soldaten aus Deutschland heirateten, und schließlich nach dem Krieg nach Deutschland zogen. Ihnen wurde damals ihr norwegischer Reisepass entnommen. Die norwegische Ministerpräsidentin hat sich jetzt (das Land vertretend) gegenüber diesen Frauen entschuldigt. Ein Sieg für die betroffenen Frauen, die zwar jetzt meistens verstorben sind, vielleicht aber auch für alle Frauen?
Ich habe schließlich gefunden, dass die Lage im Saal (Kontext und Stimmung) für meine geplante Frage nicht zurechtliege. Stattdessen habe ich eine einfachere Frage gestellt: Ist es ok mit den Soldaten einer Besatzungsmacht umzugehen? Die Liebe ist doch nicht nur romantisch – wie Wasser fließend – sondern auch eine Frage des Willens?
Teige hat geantwortet, sie kenne eigentlich nur die Geschichte der 2-3 000 Norwegerinnen, die deutsche Soldaten heirateten. Von den weiteren etwa hunderttausend norwegischen Frauen, die während des Kriegs mit deutschen Soldaten umgingen, wisse sie weniger. Doch habe sie den Eindruck, diese wurde keine große Sache nach dem Krieg. Wieder über die Geheirateten: Teige gehe davon aus, diese habe aus Liebe geheiratet. Die Frauen würden zu Unrecht ihre Reisepässe entnommen und bekämen ab 1945 eine harte Zeit in Deutschland. Jetzt habe die norwegische Ministerpräsidentin die Sache geklärt.
Frauen und Männer
Die Antwort Teiges fügt sich in eine feministische Perspektive ein – zwar reicht „feministische Perspektive“ nicht ganz aus, es geht nicht nur um eine Perspektive. Es geht um die Frauen als besonders wichtig darzustellen, und auch als das Geschlecht, das (zu Unrecht?) gelitten hat und sogar etwas guthat. Ich kann mich einer geschlechtsbezogenen Perspektive anschließen, aber denn nicht nur feministisch. Besser, so allgemein, diskutieren wir das Leiden – und auch die Verantwortung – der beiden Geschlechter.
Übrigens gibt es heute nicht nur den Feminismus, sondern komischerweise auch eine Art geschlechtsbezogenen Nihilismus, als Bewegung oder „Neigung“ in der Kultur. Diesem zufolge gibt es eigentlich nicht so was wie Geschlecht – und im dem Grade, dass es Geschlecht doch gibt, am besten ignorieren wir es.
Für eine männliche Perspektive macht der Feminismus einen natürlichen Gegenpol aus. Der Geschlechts-Nihilismus dagegen, macht eher – für die beiden Geschlechter – eine Beschränkung aus.
Krieg und Frieden
Krieg bezieht sich auf Geschlecht und auf Nation. Geschlecht und Nation waren bis heute für die Identität der Menschen wichtig. Bei uns ist nicht nur Geschlecht, sondern auch Nationalität als Wert bedroht. Die eigene Nation soll dir nicht lieber sein als die anderen, und gibt es eigentlich sowas wie eine Nation? Die EU ist etwa keine „Amalgame der Nationen“, sondern eher eine homogene Bürokratie.
In dem Grade wir im Westen keine kollektiven Wurzeln haben, sind wir als Gemeinschaft leer. Die Russen haben aber eine kollektive Geschichte, und die Chinesen auch. Die Russen und die Chinesen umarmen sich sogar (Xi und Putin, Mai 2024). Hallo, unterschiedliche Nationalisten sollen sich hassen, nicht umarmen!
Ohne unsere historischen Wurzeln beim Aufwachsen kennenzulernen, diese kollektiv zu anerkennen und gar zu pflegen, sind wir leer und als Gesellschaft für das Leben auf dem Planeten wenig motiviert. Obwohl uns Wurzeln fehlen, fehlt uns wie oben diskutiert im Westen nicht ganz an Werten: weiblich ist besser als männlich, Nihilismus ist besser als Nationalismus. Es gibt eine Solidarität der Weiblichkeit, und manche Männer schließen sich an. Dieses komische Paar will die Welt erobern. Ich würde „viel Spaß beim Versuch“ sagen, hätte ich nicht Angst davor, dass der Planet inzwischen durch Krieg zerstört werden kann.
Die Trude Teige Lesung in Berlin-Pankow hat meine Angst nicht vermindert.
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