Sie lesen jetzt eine Streitschrift. Nicht die richtige Zeit für politische Streitigkeiten? Berufung auf Einigkeit wurde aber historisch gerne genutzt, um die bestehende Machtstruktur zu verstärken. Was wir zurzeit erleben, ist ein gewaltiges Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft. Gegen diese Machtstruktur will ich mich optimistisch zu Wort melden.
Zwar ist die Wissenschaft gespalten. Es ist nicht neu, dass es innerhalb der Wissenschaft verschiedene Ansichten gibt. Es ist aber neu, dass die Politik trotz diesen Unterschieden taktfester denn je auftritt.
Ich bin nur ein armer Wissenschaftler
Manche Wissenschaftler sind für jeden auf YouTube zu sehen. Ich beziehe mich im Folgenden auf eine Auswahl. Ein amerikanischer Professor namens John Ioannidis deutete am 26. März an, dass die Corona-Krise ein Prüfungs-Fiasko (evidence fiasco) sein könnte. Sein fachlicher Hintergrund: Professor of medicine, epidemiology and population health at Stanford University and Director of Medical Research and Innovation Center. (Interview durch John Kirby, The Press and the Public Project.) Ioannidis sagte auch, dass das Corona Virus möglicherweise gar unentdeckt geblieben wäre, falls 1) das Virus eine übliche Influenza wäre und 2) kein Alarm ausgelöst worden wäre.
Doch fügte Ioannidis hinzu: „Wir wissen aber nicht“ (ob es um ein Prüfungs-Fiasko gehe). Direkt über die politischen Maßnahmen gefragt, sagte er bescheiden: “ Ich bin nur ein armer Wissenschaftler”. Somit entschärfte er die politische Bedrohung, die das Fiasko–Szenario ausmachen könnte.
Wir verhinderten, dass der Himmel herunterstürzte
Weniger zurückhaltend ist der Kollege bzgl. Epidemiologie, Knut Wittkowski. Ironisch sagt er in einem Interview am 3. April publiziert, dass Abstand halten jedenfalls dazu geführt habe, dass der Himmel oben geblieben sei. Sein fachlicher Hintergrund: 20 Jahre at the Rockefeller University als “Head of the Department of Bio-Statistics, Epidemiology and Research design”, und 15 Jahre Arbeit mit Klaus Dietz bei Eberhard Karls University in Tübingen, Germany. (Interview durch John Kirby, Libby Handros und Lee Davis, The Press & The Public Project.)
Wittkowski ist überzeugt, das Corona Virus sei eine übliche Influenza. Er fügt hinzu, die Bevölkerung sollte ihre Politiker zur Verantwortung ziehen. Er steigt also tief in die nicht-medizinischen Fragen hinein. Gibt es aber in diesem Zusammenhang eine neutrale Position? Falls man Viren-Experte wäre, und ziemlich sicher wäre, dass es um eine übliche Influenza gehe, und sähe, dass die Politik eher drakonische Maßnahmen einsetzte, könnte man darüber schweigen?
Menschen sterben
Jeden Monat stirbt durchschnittlich 1 Promille der Bevölkerung. Das sind in Deutschland etwa 8 000 Menschen, in Italien 6 000. Dem Wikipedia Artikel über Influenza zufolge (17. März 2020) werden normalerweise Menschen, die in Zusammenhang mit Influenza sterben, nicht diese Todesursache zugeschrieben. Um doch der Bedeutung dieses Faktors eine Zahl zu geben, mäße man die „Übersterblichkeit“, die gelegentlich entsteht, zumal in den Wintern wenn eine Influenza besonders stark umgeht. Dem Artikel zufolge wurden für die Wintersaison 2012-13 etwa 29.000 Sterbefälle als von eine Influenza beeinflusst eingeschätzt.
Nur die offiziell gemeldeten Zahlen
Den Präsident des Robert Koch Instituts, Lothar H Wieler, würde ich als politisch zurückhaltend bezeichnen, und wiederum nicht. Sein fachlicher Hintergrund: Mikrobiologe, Präsident des Robert Koch Instituts seit 2015. Einerseits sagte er bei einer Pressekonferenz am 20. März, dass Politik nicht sein „Job“ sei. Auf der anderen Seite kann man seinen Vortrag als eine Unterstützung der einschneidenden Corona-Politik, die damals begann, wahrnehmen. Die Lage sei „ernst“. Wie ein Feldpriester an der Front las er jede Zahl der Verstorbenen und der Erkrankten in den einzelnen Bundesländern vor. Legen wir den Wikipedia-Artikel zugrunde, wäre dies etwas Neues. Er sagte auch, dass er „nur die offiziell gemeldeten Zahlen“ nennen könne. Die Zahl der wahren Fälle liege immer höher.
Was bedeutet das Letzterwähnte? Es bedeutet unter anderem, dass wer eine „Todesrate“ auf Grundlage der offiziell gemeldeten Fälle berechnen würde, eine irreführend hohe Rate erzielen würde. (Wieler hat keine Rate erwähnt.)
Der Unterzeichnende bekennt sich als Corona-Skeptiker. Am Ende der Pressenkonferenz hätte der „Staats-Wissenschaftler“ Wieler doch diesen Skeptiker an Bord der nationalen Corona‑Bewegung holen können. Er verwies darauf hin, dass manche „mich für einen Panik-Macher halten“ … umsonst wartete ich auf ein respektvolles „machen Sie bitte doch mit“. Doch nichts Respektvolles folgte, stattdessen die Aufforderung „…endlich die Augen zu öffnen“.
Nicht mehr arm
In einem zweiten Interview am 20. April publiziert könnte Professor Ioannidis seine Aussage „Wir wissen aber nicht“ mit relevantem Wissen ersetzen. Er hat mit Kollegen eine repräsentative Untersuchung in einem Distrikt Kaliforniens mit mehr als 10 Millionen Einwohnern durchgeführt. Ioannidis bleibt bescheiden – das Adjektiv „poor“ wird aber mit dem etwas weniger bescheidenen Wort „simple“ (zwar unbeabsichtigt) ausgetauscht. Das Ergebnis der repräsentativen Untersuchung ist stark: Das Virus ist 50 – 85 Mal mehr verbreitet als die „offiziell gemeldeten Zahlen“ zeigen. Die Todesrate fällt der Untersuchung zufolge auf das Niveau einer üblichen Influenza.
Wegen seiner erhöhten Glaubwürdigkeit müssen wir uns vielleicht auf ein paar weitere Herausforderungen des Professor Ioannidis‘ einlassen.
- In Italien kamen die meisten Krankenhäuser mit Corona zurecht. Nur wenige hatten erhebliche Probleme. (26. März)
- Manche Krankenhäuser in Italien hatten anfangs unglückliche Entscheidungen getroffen und Intensivbetten für Fälle vergeben, für die es nicht streng notwendig war. Als die schlimmeren Fälle eintrafen, waren diese Betten schon vergeben. (26. März)
- In New York hätte folgende Möglichkeit bestehen können: ausgerechnet die verletzlichsten Menschen wurden in den Krankenhäusern angesteckt! (20. April)
Stellen Sie sich nur ängstliche Menschen und überfüllte Wartezimmer vor. Ich füge hinzu, dass der Kollege Knut Wittkowski durch ein zweites Interview publiziert 28. April seine Ansichten festhält.
Vertrauensverlust und Teufelskreis
Ein Vertrauensverlust drohe den Medien, falls die Maßnahmen gegen das Corona Virus sich als unverhältnismäßig erweisen würde, so der Medienwissenschaftler Professor Bernhard Pörksen (Die Zeit, 8. April). Meiner Meinung nach droht nicht nur den Medien ein Vertrauensverlust, dieser droht auch der Politik. Man könnte sogar fragen, ob der Glaube an die Demokratie ins Wanken gerät.
Gesetzt den Fall, dass die Politiker der Bevölkerung und die Bevölkerung den Politikern folgen würden, entstünde eine besondere Art Teufelskreis. Die Medien haben eine besondere Herausforderung mit dem Nichtwissen nüchtern umzugehen. Es gibt zu jeder Zeit vieles, was wir konkret und im Einzelfall nicht wissen. Was rein medizinisch betrachtet wie eine übliche Influenza aussieht, kann anders erscheinen, wenn man etwa dramatische Bilder aus China oder Italien einbezieht. Falls die Medien nicht nüchtern bleiben, sondern dramatisieren, welchen Einfluss hätte dies auf den erwähnten Teufelskreis?
Um den Kreis noch heftiger darzustellen, könnte man auch die Wissenschaftler einbeziehen. Wir müssten denn unter den „staatstreuen“ und „staatskritischen“ unterscheiden. Unter den kritischen gibt es Stilvariation vom höflich-freundlichen Herrn Ioannidis zu dem direkt-engagierten Herrn Wittkowski. Gemeinsam für die beiden Kritiker ist zwar die geringe politische Wirkung. Der Leiter des staatlichen Robert Koch Instituts unterstützt seinerseits die Politik ohne direkt politische Aussagen zu machen. Sein „Feldpriester Stil“ sei meiner Meinung nach wirkungsvoll.
Hoffnung
Medizinischer Neuling oder nicht – die Corona-Krise wird ein erschütterndes Erlebnis bleiben. Vielleicht bräuchte unsere Welt ein Neubedenken aller Werte und hat keinen besseren Weg gefunden, als durch illusorische Wahrnehmung der Natur sich in eine menschengemachte Krise zu stürzen?
In Italien waren die Menschen, die mit Corona starben, durchschnittlich 81 Jahren alt. Traditionell haben die Älteren in Italien mehr Kontakt zu den Jüngeren. Das zu erwartende Lebensalter in Italien liegt um 3 Jahre höher als in Deutschland, nämlich 83 bzw. 80 Jahre. Ich biete eine Hypothese. Stellen wir uns die Älteren vor, die jetzt in Italien mit Corona starben und fragen uns, wer wären die entsprechenden Deutschen? Die Hypothese: Die entsprechenden deutschen Älteren sind schon ein paar Jahre vor der Krise vor Einsamkeit und Sinnlosigkeit gestorben.
Im Neudenken aller Werte liegt die Corona-Hoffnung. Neudenken ist aber mehr als im Namen der Vielfalt sowohl Werte als Wahrheiten individuell und subjektiv blühen zu lassen. Die Corona-Krise erinnert uns daran, dass die Welt eine ist, und so auch die Wirklichkeit. Neudenken ist denken.
Hinzufügungen 1. und 9. Juni 2020: Leider sind drei von den Videos, zu denen es oben gelinkt wurde, von YouTube gelöscht worden. Es gibt also eine Art „Redaktion“ bei YouTube, die sich dazu befugt fühlen, manche Videos aus ihrem System zu löschen. Vermutlich halten sie auch das Löschen für legal.
Meinerseits habe ich die aktuellen Videos ein paarmal gesehen. Zusätzlich bin ich sie nachgegangen um die Zitate als genau richtig zu prüfen und um für das Paraphrasieren einstehen zu können. Ich kann weiterhin für die Seriosität aller Beiträge einstehen.
Das auf YouTube verbliebene Video mit Herrn Ioannidis bekam (YouTube zufolge) bis heute 360 0000 Aufrufe.
YouTube ist eines von mehreren Beispiele dafür, dass die Kommunikation zwischen den Menschen durch eine Art Infrastruktur läuft, die privat ist. Mit Facebook und Twitter ist es auch so. Privat oder öffentlich – wir sollten darauf achten, dass eine demokratische Diskussion frei und anständig laufen darf.
Einen weiteren Kommentar zu dem Löschen YouTubes finden Sie hier.
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